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36 Jahre Konkret CD

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Heft 05 2002

Georg Fülberth

Objekt RAF

Wer holt die Gefangenen endlich aus dem Knast?

1970-1972 Aus der Jugendzeit

Im Sommer 1970 gingen einige Akademiker des Abends durch eine Grünanlage ihrer Universitätsstadt. Als sie an einem finsteren Busch vorbeischritten, rief einer von ihnen hinein: "Ulrike, komm raus!" Da mußten alle herzlich lachen.

Im Mai war Andreas Baader bei einer Ausführung befreit, ein Bibliotheksangestellter durch einen Schuß verletzt worden. Die Gruppe, sie nannte sich Rote Armee Fraktion (RAF), ging in den Untergrund, und diejenigen, die ihre Mitglieder von früher her kannten, empfanden das als Malheur, das denen nun einmal passiert sei und aus dem schwer herauszufinden war. Was sollten die Untergetauchten denn auch anderes machen, wenn sie nun polizeilich gesucht wurden?

In dieser Wahrnehmung waren die Manifeste, mit denen die Gesuchten sich äußerten, Rationalisierungen von Intellektuellen: die Polarisierung von Faschismusgefahr und Revolutionschance war nicht evident; die aus Lateinamerika stammende Focustheorie, auf die sie sich allenfalls berufen konnten, war in einer frühen Form auf Delegiertenkonferenzen des SDS bereits diskutiert und von den Vernünftigeren als für die BRD nicht geeignet angesehen worden. Die antiautoritäre Revolte von 1968 folgte ebenfalls nicht diesem Muster. Der Unfall vom Mai erschien als eine der Pathologien unter vielen, die sich in der Studentenbewegung entfaltet hatten.

In fortschrittlichen Häusern diskutierte man darüber, wie man sich verhalten solle, falls Ulrike Meinhof um Unterkunft bitten oder sich gar gewaltsam Zugang verschaffen werde. Es kam zu polizeilichen Haussuchungen, bei denen sich die dadurch Behelligten, die häufig heute noch nicht darüber reden, offenbar recht gut hielten. Man hatte ja auch früher da und dort Quartier gegeben.

Manche Beobachter halfen sich mit Psychologisierung, indem sie davon sprachen, wie sehr sich die einstige KONKRET-Kolumnistin verändert habe; sie sei offensichtlich wohl irgendwie wahnhaft geworden. Das mochte individuell vielleicht nicht mehr zu korrigieren sein, bedauerlich zwar, aber letztlich keine politische Sache mehr.

1972-1977 Kritik und Interesse

Spätestens seit der Verhaftung von Baader und Meinhof, den ersten Toten und Stammheim stellte sich heraus, daß eine eher beiläufige Kenntnisnahme nicht durchzuhalten war. Der Konflikt war auf Dauer gestellt und gehörte damit zu den Realitäten, mit denen ein Konglomerat zu rechnen hatte, das sich "die Linke" nannte.

Diese war in der ersten Hälfte der siebziger Jahre sozialdemokratisch (unter besonderer Berücksichtigung einer Jochen-Steffen- und einer jungsozialistischen Variante), kommunistisch (DKP und - mit Abweichungen - maoistische Gruppen) oder nannte sich "undogmatisch".

Diese verschiedenen Sektoren bestimmten ihre Haltung ausschließlich nach ihren eigenen Interessen. Das Ergebnis fiel negativ aus. Es wurde in Äußerungen bekanntgegeben, die sich als "Kritik" bezeichneten, in denen aber - echt ideologisch - die ihnen zugrundeliegenden Interessen entweder verschwiegen wurden oder tatsächlich unbekannt blieben.

Befürworter "Systemüberwindender Reformen" - etwa der heutige Beauftragte für die Atlantischen Beziehungen und damalige Juso-Vorsitzende Voigt - meinten sich von der RAF schon deshalb abgrenzen zu müssen, weil deren Taten nicht als Vorwand zur Bekämpfung der eigenen Bestrebungen herhalten sollten.

Die DKP fürchtete um ihre Legalität und um die Chance für ihre Bündnishoffnungen (Aktionseinheit mit der SPD und in den Gewerkschaften), sagte das aber nicht, sondern griff auf Zutreffendes aus dem Parteilehrjahr zurück: der individuelle Terror sei schädlich.

Undogmatische und auch Linksliberale fühlten sich ebenso gestört wie DKP und Jungsozialisten, und zwar aus dem gleichen Grund: sie fürchteten Verwechselung. Der Angela-Davis-Kongreß 1972 in Frankfurt/Main gab Gelegenheit, einiges klarzustellen. Man argwöhnte zu Recht, daß der Staatsapparat die RAF zum Vorwand für das Abräumen von bürgerlichen Rechten nehmen werde. Zur legitimen Wahrnehmung eigener Interessen gehörte die professionelle Arbeit, die damals neben anderen der Anwalt Schily verrichtete, ebenso wie Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Intellektuelle wandten sich gegen eine Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und verteidigten damit ihre eigenen Berufsumstände.

Der Blick auf die eigenen Interessen durch die strikt maoistischen Gruppen sowie durch den - mit ihnen nicht in einen Topf zu werfenden - Kommunistischen Bund war von den Akzeptanzbedenken der anderen Fraktionen nicht beeinflußt. Der KB hatte eine eigene Faschisierungsthese und einen nichtlegalistischen Militanzbegriff, die aber von den Vorstellungen der RAF abgegrenzt wurden. Sprechen wir hier einmal ausnahmsweise von solidarischer Kritik.

Nicht aufgrund seiner damaligen Taten, sondern dessen, was es später daraus gemacht hat, soll an dieser Stelle auch eines Frankfurter Soziotops gedacht werden, dessen Anführer nach Jahrzehnten von CDU, Springer-Presse und Bettina Röhl zur Erinnerungsarbeit genötigt worden sind. Der Kategorische Imperativ seiner Mitglieder: unbedingt überall dabeizusein, und zwar vorne, brachte unter anderem jenes kürzlich wieder zitierte Dokument zustande, in dem einer von ihnen die Untergetauchten - natürlich zugleich mit Abgrenzung - als "Genossen" bezeichnete. Das war zunächst nur für die Archive.

1977-1989 Ego me absolvo

Die Igel und die Wildschweinen

Diese sind nicht von den Feinen.

Volksmund

Korrekterweise spricht man vom Deutschen Herbst und nicht vom Deutschen Thermidor. Vom zweiten Begriff braucht hier auch nicht weiter die Rede zu sein.

Herbst ist, wenn die Blätter fallen, das Wachstum sich vorläufig erschöpft, nicht alle Bütenträume reifen, aber doch manche Frucht geborgen werden kann. Dann darf auch Erntedank gefeiert werden. Anschließend wird, weil der Winter bevorsteht, gejammert, etwa ab November.

So erging es auch den verschiedenen vorgenannten Fraktionen.

Die Jungsozialisten wurden von Helmut Schmidt vorgeführt, ihr Vorsitzender von Egon Bahr ausgeschlossen. Wer sich in der Partei halten (oder später wieder in sie zurückkehren) konnte, durfte sich erst als politisch gescheitert beweinen und sich dann über seine früheren Vorstellungen mokieren und hatte in jedem Fall über persönliche Nachteile nicht zu klagen.

Undogmatische Linke und Radikaldemokraten brachten die Sanfte Republik, die sie mit Hilfe des Rowohlt Verlags herbeiführen wollten, nicht zustande und haben doch etwas erreicht: in der Bundesrepublik war - wohl auf 1968 zurückzuführen - eine Gegenelite entstanden, die sich von der sozialliberalen Koalition absetzte und das Zeug hatte, als Begabungsreserve noch in späteren Jahrzehnten gebraucht zu werden.

Die DKP war in der Sackgasse und kam sogar rückwärts nicht heraus. Immerhin boten die Biermann-Ausbürgerung 1976 und der Eurokommunismus zwar nicht der Partei, aber einzelnen Mitgliedern die Chance zu protestierendem Abschied. Das waren die ersten. Die Langsameren mußten auf Gorbatschow warten.

Nicht besser dran waren KPD und KBW. Der KB war - ausweislich der Verkaufszahlen seines Organs "Arbeiterkampf" - 1976 auf dem Höhepunkt. Dies war insofern nachteilig, als es anschließend nicht mehr weiter aufwärts gehen konnte, und eine revolutionäre Organisation braucht das. (Deshalb kennen wir aus der sozialistischen Literaturtradition ja Schriften wie "Was tun?" und "Wie weiter?") Irgendein Ausgang aus der Stagnation mußte gefunden werden.

Die blutige Katastrophe der RAF 1977 hat damit überhaupt nichts zu tun. Aber sie bot einen hervorragenden Vorwand für die in der "undogmatischen" und teils auch kommunistischen Linken anschließend stattfindenden Korrekturen von Lebensläufen. Man konnte sich aus einer schmucklosen Vergangenheit entfernen, indem man sich von einer Praxis lossagte, die man ohnehin nie ausgeübt hatte.

Das war nicht notwendig, aber bequem. Daß man auch ehrlich hätte verfahren können, zeigte immerhin die Gruppe Z, als sie sich aus dem KB ausklinkte: es genügte der Hinweis auf bisherige Mißerfolge und - angeblich - neue Chancen. Dazu brauchte man keine Distanzierung von der RAF.

Inzwischen waren wieder junge Leute herangewachsen, die sich links politisiert hatten. Sie paßten - soweit sie nicht tatsächlich, was vorkam, in die RAF gerieten - nicht in die alten Fraktionen. Man begann von "Neuen Sozialen Bewegungen" zu sprechen. Hier wurden nun ein paar simple Wahrheiten gelernt, nämlich:

In nichtrevolutionären Zeiten gibt es keine revolutionäre Gewalt. Wer dennoch Politik machen will, kommt um gewisse Institutionen nicht herum. Selbst der außerparlamentarische Kampf bezieht sich ja noch auf die Parlamente.

Das ist alles arg banal, muß aber in jeder Generation ebenso neu gelernt werden wie das Zähneputzen. In Deutschland, dem Hauptverbreitungsgebiet von Heinrich Hoffmanns "Struwwelpeter", brauchte man dafür ein einschüchterndes Beispiel: die Geschichte der Rote Armee Fraktion. Deren justizielle Behandlung zielte nicht nur auf die unschädlich gemachten Individuen, sondern diente auch der Abschreckung anderer. (Das ist der Hauptzweck staatlicher Repression in politischen Angelegenheiten. Große Beispiele: das Augen-Ausstechen im Bauernkrieg und die Exekutionen nach der Pariser Kommune; zivilgesellschaftliche Duodez-Ausgaben: Berufsverbote und Isolationshaft.)

Dies war die Stunde des Frankfurter Soziotops. Jetzt konnten ihre jungen Veteranen aufschreien wie einst Herbert Wehner auf dem Godesberger Parteitag der SPD: "Glaubt einem Gebrannten!" Daß sie wieder dabei und an der Spitze waren - jetzt in den "Grünen" -, verkauften sie als Bruch, dessentwegen man sie bedauern, aber auch unbedingt belohnen mußte.

Originell war die Instrumentalisierung der RAF innerhalb der Linken deshalb nicht, weil sie rechts und in der Mitte vorgemacht wurde: Helmut Schmidt konnte zeigen, was die SPD unter einem starken Staat verstand, CDU und CSU führten eine Kampagne gegen den "Sympathisantensumpf". Die Apparate der Inneren Sicherheit bekamen, was sie sich schon immer gewünscht hatten, worauf sie ohne die Rote Armee Fraktion aber noch ein bißchen hätten warten müssen.

So ist die RAF tatsächlich immer nur ein Objekt gewesen. Ihren letzten Gefangenen - Eva Haule, Birgit Hogefeld, Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt, Rolf Clemens Wagner - wird diese Einsicht so weh tun, daß sie ihnen kaum zugemutet werden kann. Aber es ist wahr.

1989-2002 Abwicklung

Netschajewistische Genossen, die unbeschreiblichen, aber ganz überflüssigen Ärger anrichten und erleiden.

Peter Hacks

Inzwischen ist die RAF noch nicht einmal ein Objekt. Sie hat - sieht man von einigen Filmschaffenden ab - keine Nutznießer mehr. Wer sich abgrenzen muß, benutzt dafür die Stasi. Es fehlen die Leute, die abgeschreckt werden müßten.

Damit sind die Gefangenen aus der RAF zur Privatsache geworden. Nicht umsonst ist die einzige Publikation, die sich kontinuierlich mit ihnen befaßt, ein Angehörigen-Info. Auch der Hinweis auf die Wahrung einer Biographie benennt ja nichts Politisches (dies hätte immer mit Wirkung und Verallgemeinerung zu tun), sondern Persönliches.

Wer jetzt noch an die Gefangenen denkt, wird allerdings aus traditionellen Gründen wohl zumeist aus dem additiven Kollektiv "Die Linke" kommen. Die Hamburger Fachgruppe Medien in der Gewerkschaft ver.di hat über 1.500 Unterschriften für die Freilassung der Gefangenen gesammelt. Initiativen zur Kommunikation zwischen drinnen und draußen gingen fast immer von den Knästen aus. Es fanden hier und dort auch politische Gespräche mit den Inhaftierten statt.

Um Beiträge zur Befreiung handelt es sich dabei aber nicht. Hierzu fehlt es dem additiven Kollektiv an allem, was nötig wäre. Der Staat hat auf der ganzen Linie gesiegt. Er ist, was die Entscheidung über die Haftdauer angeht, mit seinen Gefangenen allein.

Im Dezember 2001 hat Günter Gaus in Ausübung seines bürgerlichen Berufs (und nicht als Demonstrant) Christian Klar interviewt. Man sah und hörte den Gefangenen: keinen Strategen und keinen Flenner, sondern einen Mann, dem es schwer fiel, Worte zu finden.

Hans Magnus Enzensberger hat das Gnadengesuch von Helmut Pohl befürwortet und war damit erfolgreich. Er wird immer wieder nicht nur von Linken wegen seiner politischen Positionen, sondern auch von anderen Leuten, die Wert auf solide Argumentation legen, gescholten. Für Helmut Pohl war er als Privatmann tätig. Wenn er von Roman Herzog gehört wurde, wird das auch daran liegen, daß diesem jene Seiten angenehm sind, an denen Enzensbergers Kritiker Anstoß nehmen.

Wollte eine(r) der Überlebenden aus der RAF einmal exakt aufschreiben, wer ihm oder ihr in den vergangenen 32 Jahren tatsächlich - also mit Erfolg - geholfen hat: dieses Verzeichnis würde (DDR beiseite) kein Gotha der radikalen Linken. Selbst Verräter haben nicht nur verraten. Durch ihr Überlaufen verfügen sie über Möglichkeiten, da und dort Ablaß zu zahlen. Wer effizient helfen wollte, mußte mindestens mittig genug sein.

Zum vollständigen Sieg des Staates gehört seine Definitionsmacht gegenüber den von ihm Angeklagten: Niemand konnte ihn daran hindern, sie nicht etwa als Kriegsgefangene in Gewahrsam zu halten oder wegen Hochverrats (= Revolutionsversuchs) zu verurteilen, sondern wegen Mordes und damit (aus seiner Sicht) wegen einer Privathandlung. Da er gewonnen hat, wird, wer an ihre Befreiung denkt, dies zu seinen Bedingungen tun müssen (es sei denn, irgendwer will auf ihre Rechnung den Helden spielen).

Diese Voraussetzungen sollte man sich aber etwas genauer ansehen.

Der Staat BRD hat sich seit 1949 einige Extras geleistet. Dazu gehört unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe (der, nähme er seine Anklagen ernst, mehrere Verurteilte aus der RAF sonst wohl verfallen wären). Auch den Freiheitsentzug, sogar den lebenslänglichen, hat er unter eine Bedingung gestellt: die Verurteilten dürfen nicht zerstört werden. Deshalb gibt es die Möglichkeit - ja, zuweilen das Gebot - der Haftverschonung, die Strafaussetzung zur Bewährung und die Begnadigung. (Amnestie wäre schon wieder zu politisch und soll hier nicht erörtert werden.)

Einige Gefangene aus der RAF sind nach dieser Maßgabe inzwischen freigekommen - oft nicht etwa bevor sie ruiniert waren, sondern danach. Der Staat hat sich in ihrem Fall keineswegs korrekt an die Regeln gehalten, die er sich selbst gegeben hat, sondern er hat sie verletzt und sich erst danach wieder an sie erinnert. Hielte er sie im Fall der letzten Fünf endlich ein, müßte er diese - unter welcher rechtlichen Form auch immer - freilassen.

Mit unserem additiven Kollektiv (den Schreiber dieser bescheidenen Zeilen eingeschlossen) hätte dies, wie gesagt, nichts zu tun. Aber es wäre gut für die Gefangenen, und daß ihr Gegner damit ein weiteres Mal triumphiert, sollte niemanden stören.

Bleiben die Fünf aber jenseits ihres politischen, körperlichen und psychischen point of no return in Haft, wäre es einerseits katastrophal, andererseits ehrlicher, wenn der Staat sich von den Veränderungen - "Humanisierungen" - des Strafvollzugs, zu denen er sich zwischenzeitlich durchgerungen hat, lossagen und überdies die Todesstrafe wieder einführen würde. Das erste geht ganz leicht, zum zweiten genügt (zweckdienliche Interpretation von Artikel 1 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht vorausgesetzt) eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag.

KONKRET Text 56


KONKRET Text 55


Literatur Konkret Nr. 36